Warum schreibe ich Geschichten?
Felix Feigenwinter (1980)
In ihrer Rubrik "Schweizer Autoren" präsentierte im Jahr 1980 die Zeitschrift "Beobachter" ihren Lesern den Basler Journalisten Felix Feigenwinter als Schriftsteller. Einleitend schrieb die "Beobachter"-Redaktion:
Der diesmal vom Beobachter vorgestellte Schriftsteller ist im Hauptberuf Journalist. Daneben und dazu schreibt er Literatur. Eine seltsame Konstellation, über die der Autor selbst folgendes sagt: "Schreiben als Hobby eines Berufsschreibers? In Wirklichkeit ist es natürlich mehr als ein Hobby. Es ist die Suche nach meinem wirklichen Ich." - Ihn auf dieser Suche zu begleiten, dazu bieten die folgenden Texte Gelegenheit.
Wer bin ich?
Zur Welt kam ich am 14. Dezember 1939, um drei Uhr nachts, in einer Mietwohnung an der Bahnhofstrasse des basellandchaftlichen Industriedorfs Pratteln. Die Herkunft meines Vaters, eines Lehrersohns, ist ländlich und katholisch-konservativ. Meine Mutter stammt aus einem alten Stadtbasler Bürgergeschlecht, das protestantische Tradition hat. Der Vater meiner Mutter - also mein Grossvater mütterlicherseits - wich insofern von der Tradition ab, als er eine Katholikin aus dem Elsass heiratete. So wurde meine Mutter katholisch. Sie war Einzelkind und als solches letzter Spross eines aussterbenden Familienzweigs. (Zwei ihrer drei unverheirateten Tanten lernte ich als mich besonders beeindruckende alte Damen kennen, die von Zeit zu Zeit meine Mutter besuchen kamen, wohlerzogene, spröde-disziplinierte, an uns Kindern freundlich interessierte Protestantinnen, die mit meiner Mutter zu Tee und Zwetschgenwähe für mich höchst lehrreich und unterhaltsam tratschten und dabei sparsam, aber effektvoll geistreich-ironischen Basler Witz einstreuten.)
Über eine ganze Reihe von Geschwistern verfügte dagegen mein Vater. Unter ihnen kam er mir immer privilegiert vor. Er war der einzige in der Schar dieser Lehrersöhne und -töchter, der eine akademische Laufbahn eingeschlagen hatte: Er wurde Jurist, Obergerichtsschreiber, später Strafgerichtspräsident. Mein jüngerer Bruder trat in seine Fussstapfen. Ausserdem habe ich noch zwei Schwestern, von denen eine schon im Kindesalter Geschichten schrieb.
Meine Erinnerung an das Leben in Pratteln beschränkt sich auf einen Sinneseindruck: auf die Erinnerung an einen Geruch im Treppenhaus. Ein eigentlich unbeschreiblicher, warmer, süsslicher Duft, den ich unter anderem mit frisch gebackenem Gugelhopf in Verbindung bringe und der mir heute noch, wenn ich ihn wittere, das Gefühl glücklichen Geborgenseins vermittelt.
"Schneewittchen" und der Marder
Als ich etwa dreijährig war, zogen wir in ein verwinkeltes (Miet-)Einfamilienhaus an der Peripherie des Baselbieter Residenzstädtchens Liestal. Am glücklichsten fühlte ich mich in der warmen Jahreszeit im Gemüse-, Blumen-, Sträucher- und Baumgarten, der das Haus umgab, im hohen Gras und im Heu der angrenzenden weiten Wiesen, am Ergolzufer und im nahen Wald.
Schon damals war ich ein Individualist, eigentlich recht eigenbrötlerisch. Lieber unterhielt ich mich allein und spielte mit Käfern, Würmern, Schnecken, Igeln, Heuschrecken, Grillen, Kröten, Fischen, Vögeln und später auch mit Meerschweinchen, die im Garten und in der umliegenden Natur lebten, als mit meinen Geschwistern und den anderen Kindern. Die Meerschweinchen liess ich im Sommer auch frei im Garten laufen - bis mich angstvolle Schreie weckten und ich im Morgendämmer entsetzt das sauber geleckte Fell eines meiner Schützlinge (namens "Schneewittchen") entdeckte. Das war, soweit ich mich erinnere, mein erster Anschauungsunterricht über mögliche Risiken und Konsequenzen meines seit jeher sehr ausgeprägten Freiheitsdranges. "Schneewittchen" war aber natürlich nicht das letzte Opfer und der Marder nicht das letzte Raubtier, die mir in meinem Leben begegneten.
Dass mein Freiheitsdrang alsbald durch Schul- und andere Sachzwänge ernstlich verletzt wurde, hat mit dazu beigetragen, dass ich durch Lesen, was mein kritisches Denken förderte, viele Bedrohungen der sogenannten Realität als relative, für mich keineswegs immer nur zwingende Erscheinungen zu entlarven lernte. Eine lebensnotwendige Einsicht, die mich auch intellektuell (nicht nur emotional) mein individuelles Recht und meine Fähigkeiten erkennen liess, meine Umwelt nicht mit meinem Schicksal zu verwechseln, sondern sie kritisch zu be- und notfalls zu verurteilen, um nach anderen, meiner Individualität angemessenen Normen zu suchen.
Zwischen Leidenschaft und Brotberuf
Nach einem Abstecher im Humanistischen Gymnasium in Basel liess man mir eine kaufmännische Ausbildung angedeihen. Heimlich bereitete ich mich aber auf eine Tätigkeit als Schriftsteller vor. Meine ersten Gedichte und Kurzgeschichten schickte ich an die Feuilletonredaktionen verschiedener Zeitungen. Und nun geschah ein Missverständnis,
dem ich meine journalistische Laufbahn verdanke: Einige Redaktoren sandten mir meine dichterischen Ergüsse zurück (nur einige wenige wurden veröffentlicht) und erkundigten sich gleichzeitig, ob ich nicht lieber journalistische Texte schreiben würde... Man schickte mich an Gemeindeversammlungen, damit ich darüber in der Zeitung informiere; ich besuchte Kunstausstellungen, Radrennen, Modeschauen, Pressekonferenzen, interviewte Regierungsräte, Schauspielerinnen, Fussballspieler, Kunstmaler; nach eigenen kreativen Vorstellungen begann ich Reportagen zu konzipieren, und während mehreren Jahren betätigte ich mich als regelmässiger Gerichtsberichterstatter der "Basler Nachrichten". Nebenbei schrieb ich Glossen, Kolumnen, Satiren ... und schliesslich unterschrieb ich, als bisher freier Journalist aus Leidenschaft, aber frisch verheiratet und werdender Vater, einen Vertrag als festangestellter Redaktor. Für die freie Schriftstellerei hatte ich immer weniger Zeit gefunden.
Einsame Beschäftigung
Warum ich seit einigen Jahren wieder "Literatur" schreibe? Füllt mich der Journalismus und das Familienleben, zu welchem Mitarbeit im Haushalt und Beschäftigung mit dem Kind (selbstverständlich) gehören, zu wenig aus? Ich will es nicht leugnen: Die Erfahrung, dass sich konformes journalistisches Schreiben letztlich in oberflächlichen sprachlichen und inhaltlichen Klischees erschöpft (in welcher Zeitung ist heutzutage unangepasster Journalismus noch möglich?...), frustriert mich. Es drängt mich zu einer Freizeitbeschäftigung, die bei einem, der schreibend sein Geld verdient, erstaunen mag. Schreiben als Hobby eines Berufsschreibers? In Wirklichkeit ist es natürlich mehr als ein Hobby. Es ist die Suche nach meinem wirklichen Ich.
Dabei wird mir immer wieder eine merkwürdige Problematik, eine Art Widerspruch bewusst: Ich schreibe Geschichten, um mich selbst zu finden, aber gleichzeitig bemühe ich mich, Leser zu fesseln, zu beindrucken, zu unterhalten. Ich will also auch kommunizieren, mir Unbekannte ansprechen, sie einladen, meinen erfundenen Figuren und Geschichten zu folgen, die meine versponnenen Gedanken, meine persönlichen Erfahrungen spiegeln. Wahrscheinlich möchte ich auch belehren, entlarven: So bin ich, so bist du, so ist der, so ist die, so sind wir, so sind die dort... und letztlich: So ist das halt. Aber ich möchte auch andere Perspektiven, Alternativen aufzeigen: "So kann man es auch sehen", "so könnte es auch sein".
Da das Schreiben eine einsame Beschäftigung ist, freut es mich nicht nur, wenn mich Leser ansprechen (die ich mit meinen Texten angesprochen habe); manchmal erschreckt es mich auch. Und dann verkrieche ich mich wieder - und beginne, eine neue Erzählung zu schreiben.
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Ende einer Laufbahn
Von Felix Feigenwinter
Auf der alljährlich wiederkehrenden Herbstmesse, die zum Basler Herbst gehört wie die fallenden Blätter in den Parkanlagen und der kühle Rheinnebel, steigen in mir Erinnerungen auf an jene Zeiten, als ich in der Vorstellung, später irgendwann Schriftsteller-Lorbeeren einheimsen zu können, in beinahe unaufhaltsamer schöpferischer Produktionswut an einem Roman schrieb. Und daran, wie ich von dieser Illusion gnädig geheilt wurde - in einer Herbstnacht Mitte der Sechzigerjahre.
Am frühen Nachmittag zuvor hatte ich auf der Herbstmesse einen um mehrere Jahre reiferen Literaturfreund getroffen, dem ich mein großes Glück anvertraute: Nämlich, dass ich den Roman, an dem ich seit etlichen Jahren Tag und Nacht verbissen arbeitete, endlich beendigt hätte; er läge druckreif auf meiner Bude, bereit, an einen Verlag verschickt zu werden. Der Literaturfreund zeigte sich sehr interessiert, er wollte das Produkt meines bisher verkannten Fleißes kritisch begutachten, und wir vereinbarten, uns in der damals noch vorhandenen Weinstube Hunziker am Spalenberg zu treffen. Da erschien ich ein wenig später mit den dreihundert Schreibmaschinenseiten Roman unterm Arm - mein Bekannter saß bereits vor einem Liter Roten, und wir begannen zu lesen: Seite für Seite, zuerst er, dann ich, manchmal auch zu zweit dieselbe Seite. Dazu tranken wir Wein, erstaunliche Mengen Magdalener.
Der Abend brach herein. Und mit ihm ein angeheiterter Kunstmaler, der Heimweh-Ungar Janossy, der sich zu uns setzte, mittrank und, in seiner bekannten Art, die im Lokal befindlichen Gäste zu zeichnen begann; die Skizzen verteilte er den Porträtierten. So ging das stundenlang, bis wir um Mitternacht unserem Malerfreund "Lebtwohl!" zuriefen und in die kalte Herbstnacht tauchten.
Erst auf dem Petersplatz, zwischen den vermummten Messebuden, beschlich mich das helle Entsetzen: wo war mein Roman?! Zu zweit untersuchten wir den Weg zurück bis zum Spalenberg, in der verschwommenen Vorstellung, das Dreihundertseitenwerk sei unterwegs auf die Strasse gefallen. Nun wimmelte es zwar von Papieren auf dem nächtlichen Boden: von weggeworfenen Kastanien- und Magenbrot-Tüten, Zigarettenpäcklein und Papiertaschentüchern, Trambillets und leeren Zündholzbriefchen. Der Roman war nicht darunter.
Am Morgen stand ich, ein banger Hoffender, vor der Tür der Weinstube - der erste Gast! Erfolglos...
Mir dämmerte: Die Porträts! Unser Malerfreund, der gutmütige Janossy aus Budapest, der so leicht in Tränen ausbrach, hatte die Porträts, die er in seinem Bescherungsrausch fortlaufend an die weinseligen Gäste verteilte, auf die Rückseiten meiner dreihundert Schreibmaschinenblätter gezeichnet! Weder Täter noch Opfer waren Zeuge dieser Orgie gewesen, ganz zu schweigen von den übrigen Betrunkenen.
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Felix Feigenwinter (1995)
Die Stimme
Von Felix Feigenwinter
Felix Feigenwinter (im Restaurant "Anker" in Bern 2010)
Ein Träumer
Von Felix Feigenwinter
Seine Eltern hatten ihn über die grüne Grenze aus dem Kriegsland gerettet, auf der Flucht vor den Mördern ihrer eigenen Eltern. In der neuen Heimat wurde der Friedenstraum mit Glockengeläut und stolz gehissten blutroten Fahnen gefeiert, auf denen schneeweisse Kreuze ohne Haken prangten; die Fahnen flatterten im wonnigen Frühlingswind.
Seine Überlebensgeschichte anvertraute er mir zwanzig Jahre danach in der unversehrten Gemütlichkeit einer Gaststube, deren Wandgemälde die Schrecken zweier Weltkriege überstanden hatten; später wichen die dunkelfarbigen Bilder aus einer versunkenen Zeit einem unverbindlich-heiteren Design.
Im renovierten Restaurant konnte ich ihn nur dreimal erleben. Das erste Mal bemerkte ich, wie er in der Begleitung einer älteren Dame das Lokal betrat, die für ihn, als sei er blind, die Glastür aufstiess und hielt. Er hatte mich nicht gesehen, und ich liess die beiden ungestört; die Dame hielt ich für seine Mutter.
Das zweite Mal, an einem sonnigen späten Nachmittag, sass ich draussen vor dem Restaurant. Er verhielt sich wie ein Schlafwandler, setzte sich zu mir und bestellte ein Frühstück; die Kellnerin hielt ihn für einen Witzbold, denn der Tag war wie gesagt nicht mehr jung, und Frühstück gab’s nur morgens bis elf Uhr. Aber mein Bekannter, der als Filmkritiker arbeitete, meinte es ernst; er hatte in der Nacht einen Bericht für eine Zeitung geschrieben und anschliessend bis in den Nachmittag hinein geschlafen; als er erwachte, glaubte er, es sei noch Morgen.
Das dritte Mal erwartete ich ihn an einem regnerischen, gewitterigen Spätsommermorgen in der renovierten Gaststube. Als er eintreten wollte, übersah er die Glastür, in die er stolpernd fiel, sie unabsichtlich zertrümmernd; blutüberströmt lag er nun im Scherbenhaufen. Schon abends starb er dann unerwartet – viel zu jung! – in der Klinik, in deren Notfallstation man ihn operiert und verbunden hatte.
Seine Gabe, am heiterhellen Tag mit offenen Augen zu träumen, hatte uns verbunden. Seine Fähigkeit, unsichtbare Grenzen zu durchbrechen, kostete ihn das Leben.
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